Um das Jahr 1900 hat die Industrialisierung bereits einen hohen Stand erreicht. In unserer Gemeinde begann um diese Zeit eine rege Bautätigkeit. Bis 1910 entstanden in beiden Orten entlang der heutigen Langen Straße eine Vielzahl von Wohnhäusern und je eine Bäckerei. Beide Gasthäuser richteten Läden mit sogenannten Kolonialwaren Irin. Besonders in Selben stiegen die Zahl der Einwohner und der Anteil der Arbeiter schnell an. In Zschepen waren im Jahre 1900 mit 117 Einwohnern und 21 Grundstücken weniger Einwohner als 1800 gemeldet. Im Gutsbezirk, d.h. zum Rittergut gehörten 54 Einwohner. lin Jahre 1908 wurde das Werkstättenamt Delitzsch (später Reichsbahnausbesserungswerk — RAW) mit 730 Beschäftigten in Betrieb genommen.
1911 war ein extremes Trockenjahr. Die im Mai gepflanzten Futterrüben erreichen nicht mehr als Faustgröße 1912 wurde in Zschepen die Landarbeiterkaserne gebaut. Durch den Kinderreichtum der dort wohnenden Landarbeiterfamilien - sie haben fast ohne Ausnahme 4 - 10 Kinder- stieg die Zahl der Zschepener Einwohner innerhalb von 15 Jahren auf das Doppelte. Gegenüber den alten Katen hatten sich die Wohnverhältnisse nun vorbessert. Jedoch gab es folgenden Zustand: In der Küche befand sich ein Kessel. Der Fußboden war grober Beton. Durch die Küche wurden Gänse und Enten getrieben sowie das Futter transportiert. Die hygienischen Zustände waren dadurch noch immer unzureichend 1912 wurde in Selben die neue Schule in der Schulstraße (Zum Amt) eingeweiht und damit das große Übel der völligen Überfüllung der Schule in der Großen Dorfstraße beseitigt. Die Schulkinder konnten jetzt in zwei Räumen unterrichtet werden. (Kindergarten u. Schule in Selben)
1912/13 bekam die Gemeinde Selben / Zschepen elektrisches Licht. Damit wurde die Jahrhunderte lange permanente Dunkelheit in der Gemeinde beendet. Es bedeutete auch, dass die Brandgefahr, die durch das Hantieren mit Kerzen und Öllampen immer gegeben war, erheblich gemindert wurde. Gleichzeitig war es das „Aus" für den Nachtwächter. Der letzte Nachtwächter in der Gemeinde Selben war Oswald Kützing, der 1977, wenige Tage vor seinem 100. Geburtstag, verstorben ist.
In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts werden zahlreiche Vereine und die Freiwilligen Feuerwehren gegründet. Das Gründungsjahr der Freiwilligen Feuerwehr Zschepen war 1911 und das der Freiwilligen Feuerwehr Selben 1912 (100 Jahre Freiwillige Feuerwehr Selben). 1914 bildete sich ein Radfahrerverein. Weiterhin gab es einen „Pfeifenclub" und eine Blaskapelle, die bei Tanzveranstaltungen und Festumzügen aber auch bei Beerdigungen spielte, eine Laienspielgruppe und einen Turnverein. Beliebt waren auch die sonntäglichen Spaziergänge von Selben durch den Zschepener Busch und umgekehrt. Dabei boten die vorhandenen Gaststätten genügend Möglichkeiten zur Einkehr. Bis zur Sperrung des Bahnübergangs in den 60er Jahren waren diese Spaziergänge am Wochende üblich.
Trotz schwerer körperlicher Arbeit erfreuten sich die Menschen aber auch an zahlreichen, meist von den Vereinen oder von den Wirten der beiden Gasthäuser organisierten Tanzveranstaltungen und Kinderfesten. Am 1. August 1914 brach der 1. Weltkrieg aus. Am Ende dieses Krieges waren 16 Gefallene zu beklagen. Mit dem Ende des Krieges existierte auch das deutsche Kaiserreich nicht mehr. Die Weimarer Republik wurde gegründet. Schwer lasteten die Kriegsfolgen in den Folgejahren besonders auf der Arbeiterschaft. Die einsetzende Geldentwertung sicherte oft nicht das Notwendigste für den Lebensunterhalt. Diese Notzeit bestimmte das Leben der Menschen. Kleintierhaltung war gefragt. Es gab wohl kaum eine Familie, die nicht Kaninchen, Ziegen und Hühner hielt oder ein Schwein fütterte.
Das dörfliche Leben stellte sich darauf ein. Während die Männer in der Industrie und in hoher Anzahl auf dem Bau arbeiteten, gingen die Frauen als Saisonkräfte auf das Rittergut bzw. zu den Bauern arbeiten und halfen damit, die Ernährung für die Familie bzw. die Futtergrundlage für das Vieh zu sichern. Alle Straßenränder und Bahngräben waren an Kleintierhalter verpachtet. Nicht selten gab es Streitereien mit dem Schäfer des Rittergutes, der auch auf den Wegrändern die Schafe hütete. Das Rittergut hatte sich im Jahre 1800 bereits per Gerichtsspruch das Recht gesichert, die Frühjahrshütung bis zum 11. März auf allen Wiesen durchzuführen. Wenn die Kinder die Schule verließen, wurden nicht wenige von ihnen Ochsenjungen, Hofjungen oder Hofmädchen auf dem Rittergut oder bei den Bauern. Zunehmend versuchten die jungen Menschen, eine Lehrstelle zu bekommen Lind einen Beruf außerhalb der Landwirtschaft zu erlernen.Ab 1924 kam es zur wirtschaftlichen Stabilisierung. Bei den Reichstagswahlen im März 1924 stimmten in unserer Gemeinde über 30 % für die KPD. In Selben bestand eine starke SPD-Ortsgruppe.
1926 ging im Juni ein schweres Gewitter mit Wolkenbruch nieder. Fast die gesamte Heuernte schwamm mit dem Hochwasser davon. 1927 bis 1929 war in Selben eine rege Bautätigkeit zu verzeichnen. Die vielen Wohnhäuser in der Schulstraße (Zum Amt) wurden gebaut. Die Einwohnerzahl von Selben stieg auf fast 700. Buchstäblich jeder Raum wurde als Wohnung genutzt, selbst Stallgebäude wurden zu Wohnräumen umfunktioniert. Oft wohnten Familien mit 8 - 10 Personen in zwei Räumen mit Küche. Der Bürger Maul richtete einen Laden ein, in dem von Petroleum über Heringe bis zu Schreibpapier wohl alles zu haben war. In dieser Zeit entstand auch die Tischlerei von Martin Wagner. Eduard Wagner begann in der Kleinen Dorfstraße mit dem Fischhandel. Bäcker gaben sich die Klinke in die Hand. Allein nach Zschepen kamen 5 Bäcker, welche Brot lieferten. 3 Fleischer boten in Selben ihre Waren an, können jedoch ihre Existenz nur durch Hausschlachtungen sichern. 1929/30 begann die Weltwirtschaftskrise mit verheerenden Auswirkungen für die arbeitende Bevölkerung. 1932, dem Höhepunkt der Krise, war in Selben und Zschepen ein Drittel der Arbeiter ohne Anstellung. Scharen von Landstreichern, Arbeitslosen und Bettlern durchzogen das Land. Lohnkürzungen waren an der Tagesordnung. Im November 1932 war Großfeuer in Zschepen. Innerhalb von 2 Tagen fielen 2 Scheunen des Rittergutes einer Brandstiftung zum Opfer. Den Tag darauf brannte die große Scheune an der Döbernitzer Schäferei. Ab 1935 konnten das Rittergut und einzelne Bauern einen Teil der Felder mit Abwasser aus Leipzig berieseln. Das brachte eine erhebliche Ertragssteigerung bei Zuckerrüben. Auch die Viehweiden profitierten davon. Es kam jedoch auch zu einem großen Fischsterben im Lober als im Brodauer Winkel diese Abwässer in den Bach gelangten. Große Mengen toter Hechte, Barsche, Schleie und sogar Aale trieben an der Wasseroberfläche.
Die sog. Arbeiterparteien, KPD und SPD gewannen in dieser Zeit an Ansehen. Bei den Reichs- und Landtagswahlen wurde in unseren Gemeinden die KPD die stärkste Partei (Frühjahr und Herbst 1932). So stimmten z.B. in Zschepen von 130 Wahlberechtigten, 70 für die KPD. Es standen 32 Parteien zur Wahl. Unübersehbar war aber auch der Stimmenzuwachs der NSDAP, welche bei diesen Wahlen 40 Stimmen erhielt. Auf Reichsebene war die NSDAP Wahlgewinner. Es begann die Unterdrückung und Einschüchterung andersdenkender Bürger. Parteien, Organisationen, Arbeitersportvereine und deren Zeitungen wurden verboten, wenn sie nicht linientreu waren. Die gewählten Gemeindevertreter und der Bürgermeister wurden abgesetzt. Ein neuer Bürgermeister wurde eingesetzt. Tatsache ist, und das belegt das Sitzungsbuch der Gemeinde aus den Jahren 1936 —1946, dass für das Wohl der Gemeinde, etwa für Straßenbau und Schulen usw. kein Geld da war, weil alle Mittel der Kriegsvorbereitung dienten. Die Nazipartei gewann auch in unseren Orten erheblichen Einfluss. Dazu trug besonders die Beseitigung der Arbeitslosigkeit bei. Die geschaffenen Arbeitsdienste für junge Männer und später auch für junge Frauen hatten das Ziel, dringend notwendige Aufgaben in den Städten und Dörfern durch kollektive Arbeit zu lösen. Die Angehörigen des Arbeitsdienstes erhielten freie Verpflegung und 25 Pfennige pro Tag. Sie wurden in der Regel in Lagern untergebracht. Die Arbeitsdienste bauten Straßen, begradigten und befestigten Bäche und Flüsse. In unserer Gemeinde begradigte der Arbeitsdienst den Strengebach und zwischen Zschepen und Döbernitz den Schermbach. Im Jahre 1935 wurde der Lober zwischen Zschepen und Delitzsch begradigt. Die Mädchen mussten nach Schulabschluss ein Landjahr absolvieren.
In Rackwitz wurde das Leichtmetallwerk als Rüstungsbetrieb ausgebaut. Zahlreiche Einwohner fanden dort Beschäftigung. Einige Bürger wurden beim Autobahnbau eingesetzt. Die Landwirte erhielten für die Instandsetzung der Gebäude staatliche Zuschüsse. So konnte das Sterben der Bauernwirtschaften aufgehalten werden und gleichzeitig wurde die Bauindustrie angekurbelt. In Döbernitz wurde 1935 ein Jugendheim gebaut. (heute das „Bobby Bredelow" Haus). Die Gemeinde Selben beteiligt sich mit 500 Mark am Bau dieses Hitlerjugendheimes. 1936 wurde die Allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Die Lebensbedingungen der Menschen verbesserten sich zusehends und einige Landarbeiter unserer Gemeinden konnten mit Schiffen der KdF (Kraft durch Freude)eine Urlaubsreise nach Norwegen machen. Ab dem Jahr 1936 wurden überall die Kriegsvorbereitungen spürbar. Die Nazis prägten den Slogan „Kanonen statt Butter. Der „Eintopfsonntag" wurde eingeführt, das hieß, an einem Sonntag im Monat sollte ein Eintopfgericht gegessen werden. Das eingesparte Geld wurde eingesammelt und obwohl diese Spende freiwillig war, wagte keine Familie, nichts zu geben. Die vormilitärische Ausbildung wurde eingeführt.
Die Pferde der Bauern wurden auf Kriegstauglichkeit gemustert und im August, mitten in der Ernte, eingezogen. Betroffen waren vor allem die Kleinbauern. Mehrere Bürger, die schon am 1. Weltkrieg teilgenommen hatten, wurden zur Bewachung militärischer Objekte herangezogen. Hausbauer erhielten eine Sonderzuteilung Zement für den Bau eines Luftschutzkellers. Mit dem Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg und für viele junger Männer der Gemeinden der Kriegsdienst. Bereits mit Kriegsbeginn wurden Lebensmittel, Kleidung, Schuhe und andere Waren rationiert, es wurden Bezugsscheine ausgegeben. Kleidung wurde in zunehmendem Maße aus Zellulose hergestellt um Wolle und Baumwolle zu ersetzen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden im Laufe des Krieges alle Männer bis zum Alter von 40 Jahren zum Militär eingezogen. In der Landwirtschaft, insbesondere auf dem Rittergut, wurden ab 1939 polnische Frauen und Männer, sogenannte „Ostarbeiter für ein geringes Entgelt beschäftigt. Frauen und ältere Männer wurden in die Rüstungsindustrie und später zu Aufräumungsarbeiten in den zerbombten Städten verpflichtet. In Selben und Zschepen waren keine direkten Schäden durch Bomben zu verzeichnen. Aber der Militärflugplatz bei Spröda war oft das Ziel der Bomber. Bei einem Angriff auf diesen Flugplatz gingen auch Bomben östlich von Zschepen und Selben nieder. Es entstand erheblicher Flurschaden.
Ab 1942 musste die Gemeinde zahlreiche Menschen, die in Köln, Berlin und Leipzig ausgebombt waren, aufnehmen. Sie wurden in leer stehenden Räumen einquartiert. Ab 1944 kamen die ersten Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Reiches. Die Menschen aus Schlesien, Ostpreußen oder Pommern mussten Hab und Gut zurücklassen und hatten oft nichts als das was sie am Leibe trugen. Die anfängliche Begeisterung für die Politik der Nazis ebbte im Laufe des Krieges sehr schnell ab. Immer öfter kamen Meldungen über gefallene oder vermisste Familienangehörige oder Bekannte. Zunehmend ertönten erst nachts, dann auch am Tage die Luftschutzsirenen. Zahlreiche Bomber überflogen unsere Gemeinden Richtung Leipzig, Halle und Berlin. Weitere Flüchtlinge trafen ein und mussten untergebracht und verpflegt werden. Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs waren kaum noch vorhanden. Die Entbehrungen erreichten ein kaum vorstellbares Ausmaß. Am 20. April 1945 war der Krieg für unsere Orte vorbei. Selben hat 42 und Zschepen 19 Gefallene während des 2. Weltkrieges zu beklagen.